Vom Wert des Pilgerns für den Einzelnen und für das Team

Warum geht man heute noch pilgern?

 

Wer früher pilgerte, wollte eine Pilgerstätte besuchen, einen Ort von besonderer religiöser Bedeutung, das - tatsächliche oder vermeintliche - Grab eines Apostels. Damals stand also das Ziel im Vordergrund, nicht der Weg.

 

Heute verhält es sich häufig umgekehrt. Vielen Pilgern geht es darum, unterwegs zu sein, nicht darum, anzukommen. Aber warum? - Der Sozialwissenschaftler Christian Kurrat hat herausgefunden, dass „ein biografischer Anlass Menschen dazu bringt, auf dem Jakobsweg zu pilgern“. Pilgern als Beginn oder Abschluss eines Lebensabschnittes.

 

Was unterscheidet eigentlich Pilgern vom Trekking?

 

Auf den ersten Blick nicht viel: Man lässt den Alltag hinter sich, unternimmt eine Fernwanderung, befindet sich in engem Kontakt zur Natur, trägt sein Gepäck selbst und läuft von Quartier zu Quartier.

 

So viel zu den Gemeinsamkeiten. Nun zu den Unterschieden.

 

Erstens: Irgendwo habe ich einmal gelesen, Pilgern sei Wandern mit einer religiösen Komponente. Das ist mir zu einfach, ich halte es sogar für falsch. Ich glaube, eine religiöse Komponente spielt heute nur noch bei wenigen Pilgern eine Rolle. Wohl aber gibt es für viele Pilger einen spirituellen Aspekt im weitesten Sinne. Das heißt, Pilgern hat mit Selbstfindung zu tun, da wir uns mit unseren persönlichen Werten und mit Fragen nach dem Sinn unseres Lebens beschäftigen.

 

Zweitens: Beim Pilgern stehen das Erleben faszinierender Landschaften und das Erreichen eines bestimmten geografischen Zieles nicht im Vordergrund. Natürlich will man auch als Pilger Schönes genießen, aber Schönes kann auch ablenken - vom Dialog mit sich selbst.

 

Wertschöpfung beim Pilgern – geht das?

 

Mit dem Pilgern ist kein unmittelbarer materieller Nutzen verbunden. Im Gegenteil: Zunächst treten wir in Vorleistung, investieren Zeit, Kraft und Geld.

 

Demgegenüber stehen ideelle Werte, die sich für den Pilger ergeben: Beim Laufen kommen die Gedanken in Bewegung. Der Perspektivwechsel erfolgt im wörtlichen Sinne. Dies lässt uns Probleme neu betrachten, führt zu neuen Ideen.

 

Pilgern hat mit dem Überwinden eigener Grenzen zu tun: viele Kilometer am Tag zu laufen, bei fremden Menschen zu klingeln und sie um Hilfe zu bitten, beispielsweise die Wasserflasche aufzufüllen. Wenn man diese Grenzen überwindet, resultiert daraus Selbstbestätigung.

 

Ich persönlich war stolz auf mich, alleine unterwegs zu sein, mit Wenigem auszukommen, morgens nicht zu wissen, wo ich abends schlafen würde und alleine bei mir bis dahin völlig fremden Menschen zu übernachten.

 

Ideelle Werte bestimmen auch unseren Umgang mit materiellen Dingen. Dieser Umgang ändert sich beim Pilgern – zumindest zeitweilig. Wir entdecken Kleinigkeiten wieder neu und schätzen diese. Die Prioritäten verschieben sich: Habe ich genug frisches Wasser? Wo finde ich ein Nachtlager?

 

Allein oder in der Gruppe pilgern?

 

Alleine pilgern heißt, lange zu schweigen. Damit muss man erst mal klarkommen. Andererseits kann Schweigen richtig guttun, und man hat viel Zeit, sich auf sich selbst einzulassen. Jedoch kann das Schweigen nur genießen, wer hin und wieder auch reden kann. Obwohl ich selbst beim Pilgern das Alleinsein sehr genoss, war ich nach fünf schweigsamen Tagen froh, jemanden zum Sprechen gefunden zu haben.

 

Pilgern in der Gruppe kann die Gruppe einander näherbringen, wenn sie zuvor einige Herausforderungen angenommen hat: Wie geht man mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit oder Leistungsbereitschaft der Gruppenmitglieder um? Schon lange schwelende Konflikte können beim gemeinsamen Unterwegssein zutage treten. Insofern kann eine gemeinsame Pilgertour Katalysator für die Teamentwicklung sein.

 

Wo geht man pilgern?

 

Erst seit Kurzem - seitdem ich selbst Pilgern war - weiß ich, dass es in Europa ein ganzes Netz von Jakobswegen gibt. Früher glaubte ich, es gäbe nur den einen Jakobsweg. Am bekanntesten ist eben der Abschnitt zwischen Saint-Jean-Pied-de-Port in Südfrankreich und dem spanischen Santiago de Compostela, jene Strecke, die Hape Kerkeling im Jahr 2001 lief. Man findet aber auch Pilgerwege vor der eigenen Haustür. Und vieles spricht dafür, genau dort zu beginnen!

 

Anstelle eines Fazits

 

Die folgenden zwei Sätze bringen für mich den Wert des Pilgerns auf den Punkt:

 

„Ich habe mir meine besten Gedanken ergangen und kenne keinen Kummer, den man nicht weggehen kann.“ Und: „Es kommt niemals ein Pilger nach Hause, ohne ein Vorurteil weniger und eine neue Idee mehr zu haben.“

 

Beide Zitate sind nicht von mir - leider. Das erste stammt vom dänischen Schriftsteller Søren Kierkegaard, das zweite von Thomas Morus, dem englischen Staatsmann und humanistischen Autor des 16. Jahrhunderts.